Fatzer – “Ich bin in Unordnung”
In: NEOLOOK, April 2007
LAPPIYUL Park
Vom 1. – 16. März 2008 habe ich mit der Choreographin Jung-Sun Kim (Sun Day Project Group) und 7 Schauspielern das Fatzer-Fragment von Betolt Brecht unter dem Titel [Fatzer-„Ich bin in Unordnung“] im Post Theater in Seoul aufgeführt. Für diese Aufführung wurden Brechts 500 Blätter Arbeitsnotizen, die er mit 28 für das Theaterstück „Der Untergang des Egoisten Johann Fatzer“ geschrieben hat, ausgewählt und bearbeitet, dieser Text wurde auf der Bühne wieder szenisch zertrümmert, so dass nur die Kernthemen blieben.
Diesen Text, der als ein „Jahrhunderttext“ gilt, soll man wie einen Steinbruch benutzen und weiter zertrümmern, forderte Brecht. Man soll einen ganz neuen Zugang finden. – In diesem Fall, denke ich, habe ich entsprechend seiner Forderung gehandelt. Eventuell deswegen haben viele Zuschauer auf die Fragebogen, die wir vor der Aufführung verteilt haben, geschrieben, dass sie unsere Aufführung so fremd finden und schwer verstehen. Sie fanden die Aufführung, kurz gesagt, wie ein Chaos. Ich habe aber gesehen, dass sie unsere Arbeit nicht ignoriert haben, sondern versucht haben, zu verstehen und etwas darin zu finden. – Ich erinnere mich an damals, als ich “Fatzer” zum ersten Mal gelesen habe: ich habe etwas Unlogisches erlebt, dass mein Kopf ganz klar und zugleich chaotisch wurde. Dieses gigantische Denkmaterial in der Form zahlreicher Notizen bietet einen wahren chaotischen Durchgang zur Überwindung eines unvollkommenen Zustands an. Mit der grossen Freiheit des “Steinbruchs”.
Man stellt mir oft die Frage, was in unserer “Fatzer”-Arbeit als brechtsch gilt. Das bekannte Brechtsche sind der Verfremdungseffekt und die “epische Methode”, die an der Einfühlung hindern. Ich glaube, der Verfremdungseffekt von Brecht wird heutzutage kommerziell und oberflächlich missbraucht, und seine Theorie des epischen Theaters lässt die Leute Brechts Theater für ein trockenes und schwieriges Theater halten. Ich bin sicher, Brecht wollte keine Theater-“Form” vorschlagen. Er wies nur auf eine gewisse “Haltung” zum Wesentlichen hin. Und um diese Haltung zu zeigen, hat er zahlreiche Texte und Stücke geschrieben. Es geht weder um Regiemethode noch um eine bestimmte Schauspiellehre. Was er forderte, war eine vollkommene Reform des ganzen Theatersystems, und ohne solchen Veränderungswillen kann kein Experiment die Oberflächlichkeit vermeiden.
Was am experimentellsten bei Brecht ist, ist für mich der Begriff vom “Lehrstück”. Das “Fatzer”-Fragment gehört auch zum Lehrstück. Das Ziel dieses Theaters ist nicht, etwas zu zeigen, sondern seinen wesentlichen Sinn in dem Prozess zu finden, in dem die Theatermacher sich verändern und selbst lehren. Deswegen ist es das Theater, das ohne Zuschauer auch möglich ist, aber ohne Willen zum Mitwirken und experimentelles Bewusstsein unmöglich ist.
Ich habe oft versucht, die Freiheit (das Geschenk von Brecht) mit den Schauspielern und anderen Mitwirkenden zu teilen. Am Anfang, 7 Tage lang, habe ich ihnen jeden Tag Lesematerial gegeben, und wir haben täglich 7 Stunden lang diskutiert. Sie freuten sich darüber, und das war wirklich die “Lust an der Produktivität”.
Aber die Schauspieler grieten immer mehr ins Chaos. Wie schon gesagt; das Chaos ist da, um es zu überwinden. Wie Brecht sagte, die Kunst der Gegenwart ist so, als ob neue Häuser gebaut würden, obwohl die Keller noch nicht aufgeräumt sind. Wir mussten zuerst den Keller aufräumen. Das ist die Arbeit, die mit dem ältesten, nicht mit dem neuesten anfängt.
Als unsere Aufführungen vorbei waren, einige Tage später, hat ein Schauspieler von uns mir eine E-Mail geschrieben. Er meinte, dass er nach unserer Arbeit „wieder in die Masse zurückgegangen wäre und drin hart kämpfen und leben müsste“. Hat er wohl vergessen, dass „Fatzer“ unsere Waffe für den Kampf gegen die Lähmung der Masse war, und zugleich ein Lehrmaterial, uns zu ändern? Hat er nicht gemerkt, wie intensiv er während unserer Arbeit in der Masse kämpfen musste? Es gäbe doch eine positive Kraft , wenn er durch die Arbeit an „Fatzer“ sich selbst ( als ein Individuum in der Masse) von der Masse getrennt, und so sich und die Masse betrachtet hätte, und dann nach dem dialektischen Prozess „These-Antithese-Synthese“ als verändertes „Ich“ (als Synthese), in die Masse zurückgekehrt wäre. Aber es war die reale Ironie, dass die Schauspieler sich in unserer Arbeit gut verteidigen konnte, indem sie sich selbst als Waffe für einen harten Kampf benutzen. Unser „Fatzer“ war keine Arbeit, die ein Werk in die Mitte setzt, sondern die einzelnen Mitwirkenden in die Mitte stellt und die Prozesse ganz und vollkommen darbietet. So waren die Verantwortung und das Dasein der Schauspieler stark gefordert und respektiert. Wie die etymologische Bedeutung von „Performance“ – Altfranzösisch: par (voll, komplett, gründlich) + fournier (führen, ausstatten, darbieten) – wurde der ganze Prozess zur Vollkommenheit schon vom Anfang der Arbeit an betont. Ich glaube, in jeder wahren Kunst ist dieser Performance-Sinn.
Heute sagt man, dass man die Grenze zwischen den Künsten nicht mehr ziehen kann. Aber der Fall der Grenze baut immer wieder neue Grenzen mit anderen Namen. Es ist nicht anders, als dass die postideologisierende Zeit eigentlich unheimlich viele Ideologien produziert. Ich wünsche mir, dass wenigstens die Künstler selbst von dem Genre und dem Fall der Grenze befreit sein können. Zum Beispiel beim „vierzigjährigen Jubiläum der koreanischen Performance“ : Von welchem Merkmal gerechnet 40 Jahre? Wenn man die Bedeutung der Performance richtig versteht, muss man denken, dass die Geschichte der koreanischen Performance nicht 40 Jahre, sondern sogar über 4000 Jahre alt sein kann. Wenn man Performance so falsch versteht, kann daraus weder Experimentelles noch Performance herauskommen. Ein Experiment soll etwas sein, was nach vorne geht und zugleich zum originalen Platz zurückkehrt.
Ich bin sehr damit einverstanden, dass Brecht, Artaud, Müller sowie Beuys die moderne Zivilisation für widerspruchsvoll und krank halten und denken, dass die moralische Funktion der Kunst wäre, diese Wunde und Gefahr zu heilen. Das heisst nicht, dass die Kunst irgendeine Lösung zeigen soll. Die Kunst kann unsere Wunde und die Krankheit, in die wir geraten sind, ohne Zögern blosslegen und gleichzeitig dadurch die Abwehrkraft erzeugen, um nicht zugrunde zu gehen. Je mehr der menschliche Körper von der Seele getrennt wird, je mehr die Welt in Material und Geist geteilt wird, wird die Kraft der Kunst, die beides verbindet, immer wieder gefordert.
„Fatzer“ ist vorbei, uns viele Aufgaben hinterlassend. So hoffend, dass man sie in der nächsten Arbeit erfüllen kann, bereitet das ‚fatzer-project’ jetzt eine neue Arbeit, „den Findling“ vor. „Ein Wachstum, das seine Frucht zerstört, kann keine Samen mehr haben“: mit diesem Motto will das ‚fatzer-project’ wieder versuchen, unsere vergessenen Keller aufzuräumen. Diesmal werden wir auch eine Werkstatt vor der Arbeit machen und von unten langsam aufbauen.