Fatzer in Korea

LAPPIYUL Park


Vorgetragen bei der Wekstatt Philoktet/Fatzer
am 23. 05. 2005 im Literraturforum im Brecht-Haus, Berlin


Seit fast einem Jahr beschäftige ich mich mit dem Fatzer-Fragment. Ich habe es ins koreanische übersetzt, bearbeitet und noch ein paar Texte dazu geschrieben. Das Ganze wird in Korea als Buch erscheinen. Aber mein eigentliches Ziel war nicht, das Buch zu veröffentlichen. Was ich eigentlich will, ist, das Stück “Fatzer” in Korea zu inszenieren. Während der Übersetzung haben zwei Sachen die Arbeit kompliziert und schwierig gemacht. Zum einen die materielle Größe des Fatzer-Fragments mit etwa 500 Blättern, zum anderen die geistige Größe von Brecht mit ganz dichten Themen darin. Und noch  dazu sagte Brecht, dass man das Stück als Steinbruch benutzen soll, das Fragment weiter  zertrümmern, um vielleicht einen ganz neuen Zugang zu finden. Die koreanische Bearbeitung war also nicht nur eine Übersetzung, sondern auch eine dramaturgische Aufgabe.

Aber diese erste koreanische Fassung von Fatzer ist für mich keine Bühnenfassung. Das will ich nur als Material den Leuten anbieten, die die “Fatzer”-Inszenierung mitmachen werden, so dass sie einen Überblick über das “Fatzer-Fragment” bekommen können. Für die Inszenierung werde ich das mit dem  Regisseur bzw. mit den Schauspielern nochmal zertrümmern und wieder neu zusammenbauen. Die erste Bearbeitung halte ich also für den ersten  Schritt vom ganzen Fatzer-Projekt. Als zweiten Schritt habe ich mit der Aufgabe begonnen, die gesammelten Materialen und Informationen über “Fatzer” auf Koreanisch zusammenzufassen, um es meiner Projekt-Familie anzubieten. So dachte ich irgendwann, dass das doch sinnvoll wäre, diese ganzen Sachen in Korea zu veröffentlichen. Das Buch “Fatzer” wird  im Sommer erscheinen und  parallel versuche ich eine Möglichkeit zu finden, “Fatzer” im  Herbst nächstes Jahr aufzuführen.

Das “Fatzer”-Fragment : das ist  wirklich ein  gigantischer Text. Er sagt viel, vor allem viel über unsere Zeit. – Individuum und Gesellschaft, Egoismus und Kollektiv, Anarchismus und Solidarität, Ideologie und Masse, Vernunft und Gefühl, Besitzlust und Freiheit, Vergangenheit und Zukunft, Krieg, Revolution, Untergang, Furcht, Hoffnung… Diese ganzen Themen verteilte Brecht in seinem Fragment da und da, aber sie sind miteinander verbunden, wie die geheimen Zellen der Revolutionäre. Man kann also z. B. über den Egoismus Fatzers reden, aber dabei auch über die Masse, Ideologie, Freiheit, Besitzlust, Sex, Revolution sowie Fatzers Untergang.

Aber was mich besonders interessiert, ist, dass Brecht über die Menschenmasse im Kapitalismus und Mechanismus spricht. Ich als Mensch, der in Seoul, der Hauptstadt von Südkorea, in dieser großen Stadt geboren und aufgewachsen bin, und als Kind eine völlig ideologische Erziehung erlebte, aber jetzt in der Zeit der Postideologisierung lebe, habe das Problem zwischen Individium und Gesellschaft alltäglich erlebt. In Seoul lebt ein Viertel der Südkoreaner. Seit fünf Jahren aber beginnt die Bevölkerung von Seoul langsam abzunehmen, weil viele Leute weggezogen sind, aber nicht weit weg, sondern in die Vororte. Und jetzt hat Seoul 10 Millionen Einwohner, also immer noch zu viel! – Da sieht man jeden Tag massenhaft unbekannte Gesichter. Ich musste jeden Tag in der U-Bahn mit vielen Menschen Gesicht, Arm, Po, und Rücken aneinander reiben. Da gibt es kein Individuum mehr. In dieser Masse kam ich mir nicht wie ein Mädchen vor, das gerne zeichnet und Ginkobäume mag, sondern wie ein kleines Tier oder Nichts. Und da konnte ich den Orientierungssinn kaum üben. Wenn ich eine Zeit lang unter der Erde mit den Menschen Po an Po gerieben und die Schuppen auf anderen Köpfen angeguckt  habe, war ich irgendwann da, wo ich hinkommen wollte. Wie ; wusste ich nicht.

Ich denke, Koreaner leben gerne mit anderen Menschen zusammen. Sie denken immer –  “Zusammenbleiben macht stark, sich zerstreuen macht schwach”. Dieses Sprichwort wurde  in meiner Kindheit allen ständig ideologisch eingeprägt. Der Staat hat das Volk mit solcher Gehirnwäsche zusammengehalten und in dieser Lähmung gegen den Kommunismus gestellt. Das Zusammenbleiben ist eigentlich eine schöne Lebensform, finde ich, aber das Zusammenbleiben in der Lähmung, im Kapitalismus ist nicht mehr so schön.

Ich kann mich daran erinnern, dass Wolfgang [Storch| irgendwann, als ich in Düsseldorf noch Bühnenbild studiert habe, im Klassenraum gesagt hat : “eine Stadt muss wachsen”.

– Seoul als Hauptstadt  hat eine lange Tradition von über 600 Jahren. Aber das Problem von Seoul ist, dass es nämlich nicht so gewachsen ist, sondern schnell gebaut wurde. Früher war wohl Seoul auch eine schön wachsende Stadt. Aber nach der materiellen und geistigen Zerstörung durch die japanische Kolonisation und den Koreanischen Krieg musste in Korea alles komplett neu aufgebaut werden. Korea wollte dann vor allem so schnell wie möglich in die Reihe der entwickelten Länder einsteigen. In dem Prozess hat Korea leider viel von sich selbst verloren und viel vom Kapitalismus angenommen. Grob gesagt, Süd-Korea wurde vom Kapitalistmus mißgestaltet, Seoul wurde so schnell aufgeblasen, also, nur Seoul wurde megagroß.

Korea, sagen wir mal, “Süd”-Korea ist, wie viele andere Länder, ein Land gewesen, das sich nicht selbst modernisieren konnte. Die Koreaner haben dafür leider zwei Mal ihre Gelegenheit verpasst: Einmal durch die 35 Jahre lange Kolonisation durch Japan, und einmal durch den koreanischen Krieg. Während der japanischen Kolonisation lief die koreanische Wirtschaft unter der strengen Kontrolle von Japan, und durch die von den Japanern begonnene vollkommene Auslöschung alles Koreanischen  haben die Koreaner ihr Fundament verloren. Währenddessen gab es in Europa zwei Weltkriege. Der 1. Weltkrieg war die Offenbarung des Kolonialismus im Namen des Fortschritts. Der Kolonialismus verwandelte sich in  “Totalitarimus” sowie “Faschismus”, daraufhin schloss sich dem 1. Weltkrieg  der 2. Weltkrieg an. 1945; mit dem Abwurf der Atombombe in Hiroshima als Finale endete der 2. Weltkrieg. Gleichzeitig wurden die Koreaner von Japan befreit. Danach, während die Koreaner damit beschäftigt waren, ihre verlorene Identität wiederzufinden, hat die Welt in zwei Parteien gespalten den kalten Krieg geführt. Und ehe die Koreaner gemerkt haben, dass der kalte Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA schon in Korea angekommen war, kam der koreanische Krieg, in dem  sich die Koreaner wegen unterschiedlicher Ideologien gegenseitig töten mussten. Hinter Nord-Korea stand der Sowjet. Hinter Süd-Korea standen die USA. Und die beiden koreanischen Völker erschossen blind ihre Brüder. Das war der brutalste Krieg in Korea.

– Und das war der entscheidende Grund, warum  Fatzer keinen Krieg mehr mitmachen wollte.

Der Punkt bedeutet
Fatzer
Das bin ich und hier ist gegen mich
Unabsehbar eine Linie, das sind
Soldaten wie ich, aber mein Feind
Hier aber sehe ich
Plötzlich eine andere
Linie, die ist hinter mir, die ist
Auch gegen mich. Was ist das? Das ist
Die uns herschicken, das ist die
Burschoasie.
So sah ich
Nach drei Jahren blindwütigen Kriegs
Vorhin pötzlich hinter mich und sah
Plötzlich alles. Nämlich
Vor mir, gegen den ich focht: meinen Bruder
Hinter mir aber und hinter ihm: unsern Feind
Er raucht:
Ich Mache keinen Krieg mehr

Fatzer will nicht mehr mit falsch ausgewählten Gegnern kämpfen.  Den richtigen Feind sieht Fatzer hinter sich, – das ist der Kapitalismus und der Mechanismus.

1953 wurde der koreanische Krieg, der 3 Jahre und 1 Monat und 2 Tage dauerte, und in dem  das Land nordlich und südlich des 38. Breitegrades geteilt wurde, beendet. Alles wurde zerstört. Das war die vollkommene Selbtszerstörung. Danach haben die Koreaner gesehen, dass ein Wiederaufbau nach einem  Krieg mehr Kraft und Geld kostet als einen Krieg zu führen .

Das Land, das den koreanischen Wiederaufbau nach dem Krieg am meisten unterstützt hat, sind die USA. Aber je mehr die Amerikaner Korea unterstützten, desto abhängier wurde Korea von Amerika.  Amerika  hat sich immer mehr in die koreanische  Politik eingemischt, um seine Investitionen in Korea effektiver schützen zu können. – Das war das Prinzip des Kapitalismus. Was durch dieses Prinzip zuerst zerstört wurde, war die Landwirtschaft. Immer mehr koreanische Bauern sind hoffnungslos und hilflos in die Städte gegangen, um  in einer Fabrik zu arbeiten.  Sie bekamen aber nur wenig Lohn und mussten das akzeptieren, weil man sagte : das ist alles für unsere koreanische Wirtschaft! Dafür müssen wir unseren Gürtel enger schnallen!… Die Macht hatten die Leute , die die antikommunistische und neofaschistische  Ideologie befürworteten, und die von den Amerikanern unterstützt wurden und den Japanern schmeichelten. Und wenn die Arbeiter oder die Bauern ihr Recht forderten, wurden sie sofort für Kommunisten gehalten und verhaftet.

Die 80er Jahre und der Anfang der 90er Jahre  waren in Süd-Korea eine Zeit der Widerstände gegen die Ungerechtigkeit.

In meiner Studienzeit in Seoul, Anfang der 90er, habe ich auch einige Zeit lang an verschiedenen Demonstrationen gegen die Ungerechtigkeit des Kapitalismus und Neo-Kolonialismus Amerikas und für die Demokratie des koreanischen Volkes teilgenommen. Aus allen Teilen des Landes versammelten sich die Leute in Seoul. Für mich war das ein echter Massenchor auf der Straße, mit Bildern, Musik, Bewegung usw. Aber dass die Koreaner bei der Fussball-WM 2002 mit roten T-Shirts überall gejubelt haben, fand ich doof. Das war kein Symbol koreanischer Solidarität, sondern nur ein schwachsinniger kollektiver Jubel und zeigte nur, wie gerne die Koreaner von  den anderen Ländern anerkannt werden wollen. Im Gegensatz zu diesem Jubel, der auf der ganzen Welt wahrgenommen wurde, wurde das Geschrei der 80er und 90er nur im  Dunkel erkannt. Damals habe ich viel Blut, Tod und Selbstmord von anderen gesehen. Und irgendwann wollte ich keine Demonstrationen mehr mitmachen. Weil ich da nur Unvereinbarkeiten und Unverständliches gesehen habe – Ich konnte vor allem nicht verstehen, warum  man für das “Leben”  “sterben” muss. Und warum  sich die Welt trotzdem nicht ändert?  Alles war viel komplizierter als man sieht.

Ich habe mich letztesmal, als ich in Korea war, in einem Kaufhaus sehr gewundert, weil die Bohnen aus Amerika 10 Mal billiger als koreanische Bohnen waren. Die Verkäuferin sagte, man kaufe nur die amerikanischen Bohnen, weil sie viel billiger sind. Warum sind die amerikanischen Bohnen dann so billig? – Weil sie genetisch verändert sind und maschinell zahlreich produziert werden können. Sie haben sogar so viele, dass sie sie jahrelang lagern müssen. Vor dem Export werden die alten Bohnen gesäubert und desinfiziert. Und die Koreaner? – Sie importieren diese Bohnen ganz billig, fast umsonst, und die koreanischen Bauern züchten keine Bohnen mehr oder viel weniger. Ein Volk, das schon immer mit Bohnen lebt, von  Tofu, Sojasoße und vielen anderen Soßen und Pasten, die man durch das Gären der Bohnen gewinnen kann, züchtet keine Bohnen mehr! Und viele Tofufabriken und Sojasoßenfabriken, die nur koreanische Bohnen benutzen wollen, weil die koreanischen Bohnen für den Gärungsprozess viel besser geeignet sind, haben jetzt große Schwierigkeiten. Viele Leute kämpfen gegen dieses Problem. Ein Kampf gegen den Kapitalismus und Mechanismus! Aber die Fabriken, die die Bohnen aus Amerika oder China benutzen, wollen nicht an diesen Kampf teilnehmen. Für sie ist alles gleich, es ist sogar besser, wenn die anderen Fabriken Pleite machen.

Der Kapitalismus setzt die Zerstörung voraus. In ihm wird die Umwelt zerstört, an den Lebensfundamenten gerüttelt, die Identität zerstört, und das Individium  verschwindet. Die extremste Form der Zerstörung ist der Krieg. Im Kapitalismus muss man jedoch ab und zu  Kriege führen. Jemand könnte mir sagen, dass die südkoreanische Wirtschaft  ohne Hilfe von Amerika  nicht so wie bis jetzt hätte wachsen können. Unabhängig davon, ob die USA Korea helfen wollten oder andere Ziele hatten, war es schliesslich eine Zerstörung. Das Helfen im Kapitalismus ist, die anderen zu zerstören und eigene Gewinne zu machen. Wie ihr wisst, zeigte Michael Moore in seinem  Film “Fahrenheit 9/11”, dass die Amerikaner schon vor dem  irakischen Krieg geplant haben, durch den Wiederaufbau in Irak Geld zu verdienen. Wie Kojoten um ein blutiges Tier versammeln sich viele Unternehmen aus aller Welt beim irakischen Wiederaufbau. Aber alle großen Aufträge bekamen die amerikanischen Unternehmen als Dankbarkeitsbezeugung für ihre Unterstützung der Bush-Regierung. Und die Koreaner? – Sie haben ihre Söhne in den Irak geschickt, um  nach einem von ihnen nicht gewollten Krieges eines anderen Landes zu helfen. Was die Koreaner dadurch gewinnen,  ist ein guter Eindruck bei den Amerikanern, so dass sie auch einige Aufträge beim irakischen Wiederaufbau bekommen können. Aber der irakische Wiederaufbau sollte vom irakischen Volk selbst geleistet werden. Die Koreaner kennen das sehr gut. Aber im Kapitalismus ist Moral fehl am Platz. Der Kapitalismus ist viel zu mächtig. Wenn der Terror vom World Trade Center eine Metapher des Widerstands gegen den Kapitalismus gewesen ist, ist das Abwerfen von Lebensmitteln durch amerikanische Flugzeuge über dem Irak nach dem Krieg eine Metapher der Ewigkeit des Kapitalismus. In Korea sagt man in so einem Fall: Gift geben und dann Heilmittel.

Ich wollte neulich wissen, welche ursprüngliche Bedeutung  das Wort “Mensch” hat.

– Auf Koreanisch heisst Mensch “saram”. Das Wort ist aus zwei Wörtern  gebildet;
“salda” (leben) und “al”(Ei, Kern, Zentrum).

Wenn man die beiden Wörter verbindet, heisst es “das Zentrum des Lebens”. Der Mensch ist also im Zentrum des Lebens. Diese Interpretation schafft eigentlich ein positives Bild des Menschen. Aber das Bild ist für mich eine Utopie. Vor allem kann der Mensch im Mechanismus des Kapitalismus nicht im Zentrum des Lebens sein, sondern ist im Zentrum des Materials. Vielleicht kann man “das  Im-Zentrum-des-Lebens-zu-sein” nicht mehr so positiv interpretieren: Der Mensch wäre also im Zentrum des Lebens, aber deswegen könnte er alles tun, um zu leben: Mord, Raub, Betrug, Vergewaltigung, Krieg. . .

– Interessanterweise kommt dem  Grimm-Wörterbuch nach das Wort “Mensch” von “männisch”, dem Adjektiv von “Mann”. Damit verbinde ich “Hierachie”. Diese Herkunft des Wortes kommt mir wie eine Manifestation der größeren Wichtigkeit des Mannes vor. In der  Bibel steht ja auch, dass der erste  Mensch Adam  war, also der Mann . Das heisst, in der Geschichte des Wortes “Mensch” sind die Begriffe von  Hierachie und Ungerechtigkeit schon erhalten.

Im Fatzer-Fragment  steht:

Aber von allen Unternehmungen bleibt
Nur das: Zu leben
Unternehmung höchster Gefährlichkeit, kaum aussichtsvoll
Möglich allein durch Raub […]

Und Koch lehrt den andren:

Tut nicht zwei Dinge, sondern
Eines. Nicht leben und töten, sondern
Nur töten.

Mensch! Im Zentrum des Lebens zu sein ist gefährlich. In diesem Zentrum ist es widerspruchs-voll. Da kann man nicht nur einen Typus haben. Um zu leben, muss man viele widerspruchsvolle Charaktere in sich haben. Nur zu leben ist unmöglich. Aber die Lehre von Koch, dass man deswegen nur töten soll, kann auch die Welt nicht retten. Wir leben dazwischen: Leben und Tod.

Das “Fatzer-Fragment” ist ein Text über die Lücke.  Zwischen der alten und neuen Zeit, zwischen nicht mehr und noch nicht, zwischen Krieg und Revolution, zwischen Denken und Sein,… da schwankt man hin und her.  Die koreanische Geschichte ist eine, die die Aufgabe des Leidens und der Überwindung  wiederholte, also die immer im Übergangszustand war. Die Koreaner mussten mehr als andere Völker mit  Chaos, Konflikten und Widersprüchen leben. Wenn Heiner Müller wie Thomas Mann die deutsche Geschichte als die Geschichte, “in der keine Epoche zu Ende gelebt worden ist”, bezeichnete, “weil keine Revolution erfolgreich war”, existiert dieses Fragmentarische viel extremer bei den Koreanern, die in der Zeit der Postideologisierung weiter mit der Trennung leben. Und damit bleibt die koreanische Identität auch fragmentarisch im Kapitalismus und Mechanismus, mit der Ausrede “Übergangssituation”. Das Fatzer-Fragment sagt also viel über die koreanische Situation. Es zeigt das große Loch in Korea, und bietet 3 Minuten an, in denen man in diesem Loch nachdenken kann. Da wird die Angst mit der Hoffnung verworren. Da werden viele Vorschläge gemacht. Da wartet man auf neue Geschichte.

Das Loch! Der Untergang Fatzers findet in diesem  riesigen Warteraum statt.

Fatzers Untergang ist unvermeidlich, weil er ein Egoist ist, und  noch dazu hat er mit einem Kampf begonnen, gegen den Kapitalismus, der von Fatzers Egoismus, von Fatzers Krankheit lebt. Aber Fatzer zeigt eigenen Scharfsinn. Damit untersucht er die Zivilisation und bietet viele Einfälle und Vorschläge an, obwohl sie schließlich nur Idee bleiben. Fatzers Utopie. Die Rechnung, die nie aufgeht. . . Vielleicht ein bisschen asiatisch gedacht, ist diese Utopie, die durch Fatzers Untergang angedeutet wird, keine Versöhnung, keine Harmonie, vor allem kein Kompromiss, sondern “der chaotische Frieden”. Das ist ein Glauben an das Chaos, in dem es keinen Begriff von “gut” und “schlecht”, keinen Begriff von “Ordnung” und “Unordnung” gibt. Mit Begriffen wie ‘Ordnung’ und ‘Unordnung’ kann man keinen Frieden anstreben. Wer die Ordnung will, ist der Herrscher. Für ihn bedeutet das Volk immer Unordnung. In diesem Verhältnis gibt es nur eine Möglichkeit, den Frieden anzustreben : also, Kampf und Revolution. Harmonie oder Versöhnung ist nur der Kompromiß zwischen beiden Gegnern und kann nichts verändern. Daher könnte das Chaos die letzte Hoffnung von Brecht gewesen sein.  Nicht Tabula Rasa, nicht die Leere.

Eigentlich ist das Chaos ein Merkmal der koreanischen Philosophie und Kunst. Die Koreaner glauben schon seit langem an das Chaos, z. B. im koreanischen Schamanismus feiert man ein chaotisches Ritual für die Reinigung und für Wohlstand. Dieser Spielort, wo das Materielle und das Spirituelle zusammen verbunden werden, wird das “Chaosfeld” genannt. Und wenn die Koreaner mit koreanischen Instrumenten zusammenspielen, stimmen sie vor dem Spiel die Töne nicht ab. Das ist aber etwas anderes als Dissonanz. Man versteht koreanische Musik nicht mit den Begriffen von Akkord oder Dissonanz. Die koreansiche Musik sucht keine rationale Harmonie der mathematisch erzeugten Tönen, sondern lässt die Töne zerfallen und so zusammen eine Einheit bleiben. Das koreanische Tanzprinzip ist auch “Ruhe in Bewegung, Bewegung in Ruhe”. Das heisst nicht, dass die Ruhe und die Bewegung abwechselnd variiert werden, sondern dass beide Energien zugleich da sind, so dass man keine Grenze zwischen beiden ziehen kann. Aber man soll das koreanische Chaos nicht wie ein unordentliches Zimmer verstehen. Das koreanische Chaos ist nicht Anti-Ordnung, nicht Anti-Gesetz, nicht Anti-System. Es steht über diesen Begriffen.

In diesem Sinn kann das Chaos als etwas zukunfweisendes verstanden werden. Und in diesem Chaos kann man die Rolle der Kunst finden. Dieses Chaos verbindet den Körper und die Seele, Material und Geist, die Zivilisation und die Kultur. “Eine wichtige Arbeit der Kunst ist es, die Zivilisation zu untersuchen und die Kultur zu schaffen”, so sagte Herr Mu Se Chung, der Regisseur, der mit mir “Fatzer” zusammen inszenieren will. Er behauptet, der Mensch sei ein kulturelles Tier, das heisst, der Mensch sei ein geistiges Wesen. Seine Behauptung ist, dass die Welt aber zur Zeit auf den Kopf gestellt ist, und die materielle Zivilisation die spirituelle Kultur zerstört.  Die Masse ist am Material orientiert und man versucht, mit dem Material den Geist zu retten oder wenigstens zu erzetzen. Das ist Unsinn. Das Gegenteil, also mit der spirituellen Kultur die materielle Zivilisation  zu retten, könnte wahrscheinlich eher möglich sein. Was die Kunst machen kann, ist, die beiden zu verbinden. Das heisst, weder Harmonie noch Kompromiss. Das ist Chaos, und in dem Chaos ist der rituelle Charakter der Kunst und der Wunsch nach der Wiedervereinigung des geteilten Landes, von Körper und Seele, Material und Geist, Erde und Himmel, Raum und Zeit.